von Max Herkner
Heger Hintner war meinem Vater dienstlich
unterstellt. Er war zweifellos eine imposante Erscheinung; denn er maß vom Scheitel
bis zur Sohle gut und gern 1,95 Meter, seine breitschulterige Gestalt war ebenmäßig
und zeigte trotz seiner mehr als sechzig Jahre eine straffe Haltung. Ein mächtiger,
schlohweißer Vollbart, der bis an den Gürtel reichte, zierte nebst einem martialischen
Schnauzbart die untere Hälfte seines Gesichtes, das überdies mit einer kühnen
Adlernase und einem dunkelfarbigen, listigen, von dichten weißen Brauen überschatteten
Augenpaar ausgestattet war. Angetan war Hintner jahraus, jahrein mit einer speckigen
Jagdjoppe, ähnlich beschaffenen Lederhose und derben Schaftstiefeln. Über dieser
Aufmachung trug er außerdem noch einen langen, dunkelgrauen Mantel eines wohl
aus der Biedermeierzeit stammenden Schnittes mit einer Doppelreihe talergroßer
Hirschhornknöpfe. Den Kopf bedeckte ein sehr breitrandiger Hut von unbestimmbarer
Farbe, den aber eine alljährlich erneuerte grüne Schnur mit langen, gleichfarbigen
Troddeln umschloss. Diese waren indessen meist nicht farbecht, so dass sie bei
Regenwetter ausgingen und dem schönen weißen Vollbart ein neckisches grünes
Kolorit verliehen.
Wenn Hintner, allgemein nur unter dem Namen, "Mitzgerwenze" bekannt,
auf den steinigen Jagdsteigen gemessenen Schrittes durch den Bergwald schlenderte
und seine Augen überall hatte, denn er sah den Wald- und Jagdfrevlern scharf
auf die Finger, dann glaubte man, in ihm eine Hünengestalt aus grauer Vorzeit,
wenn nicht gar Rübezahl in eigener Person zu erkennen, um so mehr, da er sich
auf seinen Waldgängen stets auf einen langen, aus einer Eichenphalwurzel gearbeiteten
dicken Knotenstock stützte, der nebst einer umfangreichen Waidtasche und einer
uralten, verrosteten Vorderladerbüchsflinte seine ständige Ausrüstung bildete.
Alles in allem genommen war Hintner ein brauchbarer Mann, den mein Vater als
Forstschutzorgan sehr schätzte. Er trank nie ein Glas über den Durst, obzwar
er gern beim Bier in der Kreuzschänke oder der Mohornmühle saß, um seine Tischgenossen
zu hänseln. Doch es ist nun einmal im Leben so es ist nie alles
beisammen, und wo Licht ist, ist Schatten! Mitzgerwenzl hatte auch Schwachen,
und obzwar er ein unermüdlicher Waldläufer war, hatte er eine schier unüberwindliche
Abneigung vor forstlichen Betriebsarten, und das Vermessen und Numerieren der
in den Holzschlägen seines Schutzbezirkes anfallenden Holzmassen erledigte er
immer in bemerkenswert kurzer Zeit, um nur möglichst rasch wieder unterwegs
sein zu können und in den Hochlagen des Revieres "noch´m Rechta zu sahn".
Wenn dann mein Vater seine Arbeiten kontrollierte, dann gab es Unstimmigkeiten,
die Hintner manches "liederliche Tuch" seitens seines Vorgesetzten
eintrugen, das sich der so Gescholtene den Zerknirschten mimend
mit dem nie gehaltenen Versprechen, es das nächste Mal besser zu machen, reuig
anhörte, um dann heiteren Gemüts seiner Wege zu gehen.
Und noch eine Schwäche, die man vielleicht auch als Stärke bezeichnen kann,
hielt Mitzgerwenzl im Bann. Er war ein leidenschaftlicher Pascher. Dieser Umstand
bereitete meinem Vater, der sich ja in gewissem Sinne für seine Untergebenen
verantwortlich fühlte, manche Sorge, und als Hintner eines Samstags beim Frührapport
im Forsthaus seine Absentierung über den Sonntag mit dem Hinweis meldete, dass
er wieder einmal "ei´s Bloe" muss, da warnte ihn mein Vater
mit den ernsten Worten:
"Hintner, lassen Sie doch endlich das Paschen. Wie leicht können Sie einmal
den Finanzern einlaufen, und Sie lassen sich, wie ich Sie kenne, bei Ihrer körperlichen
Überlegenheit zu einer schweren Gesetzwidrigkeit hinreißen, dann kann ich Sie
selbst mit dem besten Willen nicht decken."
Der so Gewarnte reagierte auf die Worte meines Vaters in seiner Weise. Mit großartiger
Geste strich er sich seinen Schnurrbart von den Lippen, dann antwortete er:
"Herr Färschter, wenn Sie wella, gahn Se mr ok en grußa Sook, ich breng
Ihna a preischa Willem (den deutschen Kaiser) rüwer."
Vor so viel Selbstbewusstsein musste mein Vater die Flagge streichen. Aber einmal
wäre es doch beinahe schief gegangen. Mitzgerwenzl hatte in Schmiedeberg stark
eingekauft und am Rückweg über die Schwarze Koppe war der Rucksack auch für
diesen Titanen zu schwer geworden. Kaum hatte Hintner auf schmalem Schwärzersteig
die böhmische Grenze überschritten, als er sich nach einem zum Ausruhen geeigneten
Plätzchen umsehen mußte. Nachdem er dieses zwischen Knieholzstauden und Wetterfichten,
höher als der Steig, gefunden und sich geruhsam niedergelassen hatte, kam schon
nach kurzer Zeit auf eben diesem Steig ein Gendarm, der vermutlich auf die Schneekoppe
wollte. Hintner verhielt sich mäuschenstill, wurde aber doch gesehen und angesprochen:
"`n Morgen! Sind Sie der Herr Hintner?"
"Jo, dah bin ich."
"´s ist gut. Adieu." Mit drei Fingern der rechten Hand an die
Krempe seines Federhutes greifend, ging der Hüter der heiligen Hermandad weiter.
Mitzgerwenzl atmete auf, und halblaut flüsterte er in seinen Bart: "Gott
sei´s gedankt, dos ist noch amol gutt ganga."
Am nächsten Morgen beim Rapport im Forsthaus konnte es sich Hintner nicht versagen,
seine Begegnung mit dem Gendarm meinem Vater zu erzählen und seinen Bericht
in den Satz ausklingen zu lassen: "Wann owr da Mohn mit dam Fadrhut zu
mir ruff gekumma wär, bei meiner Seele, ich hätt´n drschlohn."
Mein Vater antwortete ihm: "Na, na, Hintner, das hätten Sie zwar nicht
getan, aber ich warne Sie noch einmal."
Wenige Monate später war Hintner ebenfalls an einem Montag stark verspätet
bei der Morgenmeldung im Forsthaus erschienen, und nach der Ursache seiner Verspätung
befragt, antwortete er: "Wissa Se, Herr Färschter, ich hott´ gestan
nosse Fiße gekriecht und do wullt a Schnuppa kumma, dan mußt ich mit a Poor
Stampalan Rum vrtreiwa. Do hoh ich´s holt heute murchas a bißla vrschlofa."
"Ja, Hintner, seit wann bekommen denn Sie von nassen Füßen den Schnupfen?"
"Jo, sahn Se, Herr Färschter, dos wor nee asu eefoch. Ich ging gestan zu
Mittich ein Niedermarschdorff nunder - ich wullt ei die Freit un em Bekannta
a Poor Kistlan preische Zigarrn hietrorn , da komma zwee Finanzer und
die wullta ei menn Rucksook sahn. Dos ging doch nee, und do mußt ich medn ei
die Ape (Aupa) boda giehn. Durt hoh ich die zwee Kalle urntlich ausgeschweeft
und dann hoh ich mich drvon gemacht."
Hintner war wie von ihm nicht anders zu erwarten war - ein passionierter
Jäger und sicherer Schütze, der aus seinem alten, rostigen Schießeisen seine
Kugeln immer dahin sandte, wo sie hingehören. Eines sonnigen Sommernachmittags
saß mein Vater in seinem Büro bei dringenden Schreibarbeiten, als das Telefon
schrillte. Der Forstmeister teilte mit, dass für den nächsten Tag im Schloss
zwei Rehböcke benötigt werden und diese sollten bis zum nächsten Vormittag daselbst
abgeliefert werden. Mit einer lauten Verwünschung hing mein Vater den Hörer
an: "Auch das noch! Diese unaufschiebbare Vielschreiberei und nun bis morgen
zwei Böcke." Rasch ließ mein Vater die Pürschmöglichkeiten an seinem geistigen
Auge vorüberziehen, dann entschloss er sich: "Einen übernehme ich, den
anderen muss Hintner schießen." Der Fernsprecher wurde auf das Hegerhaus
umgestellt und dieses angerufen. Der Heger meldete sich. Einige Minuten später
wäre er schon nicht mehr zu Hause gewesen. Er bekam den Auftrag, bis zum nächsten
Morgen einen Bock im Forsthaus abzuliefern. Meinem Vater, der sich auch sofort
auf die Pürsch begeben hatte, gelang es, kurz nach Sonnenuntergang auf der Kolbendorfer
Seite einen Bock zu erlegen, und als er sich am Heimweg befand, hörte der bei
schon stark fortgeschrittener Dunkelheit vom Finkenberg herüber einen Schuss,
welche Tatsache er mit dem Gedanken quittierte, dass nun auch Hintner seinen
Bock bekommen hat.
Am frühen Morgen des nächsten Tages saß mein Vater wieder in eifriger Schreibarbeit
an seinem vor einem der Straße zugekehrten Fenster stehenden Schreibtisch. Hie
und da hob er seinen Blick zum Fenster, denn er erwartete Hintner, der eigentlich
schon längst hätte da sein müssen. Endlich erschien er. Doch was ist
das? An jeder seiner mächtigen Schultern baumelte ein an den vier Läufen zusammengebundener
Bock.
"Na warte, du Himmelsakermenter! Komm nur erst herein, da kannst du dir
eine ausgiebige Fillipika anhören! So eine Eigenmächtigkeit!" Endlich trat
Hintner grüßend ein. Er blieb aber wohl infolge einer peinigenden Gewissensunklarheit
bescheiden an der Tür stehen, denn er wusste, dass sein Vorgesetzter,
wenn verärgert, keinen guten Knaster raucht. Nach längerem Schweigen hob er
zu sprechen an:
"Herr Färschter, ich breng zwee Böcke."
"Ich hab´s gesehen. Wie kommen Sie dazu, zwei Böcke zu schießen,
wenn ich Ihnen nur einen freigegeben habe? Sie sind doch schließlich alt genug,
um sich daran gewöhnt zu haben, Befehle genau so auszuführen, wie sie Ihnen
gegeben worden sind."
"Sein S´ ok nee biese, Herr Färschter, owr dos wor asuu. Gestern
Owrte, ´s wor schunn siehr dunkl, ho ich off a irschta Book geschossa.
Ha blieb owr nee liecha un do mußt ich heite ei ollr Früh wieder off a Finkaberg
un noch´m sucha. Ich fond `n owr glei, un wie ich `n ufbrecha tot, stond off
eemol wieder a Book fier mr dan hoh ich holt a imgeleht."
"Das ändert nichts an der Tatsache, dass Sie gegen den Befehl gehandelt
haben. Sie können lange warten, ehe ich Ihnen wieder einmal einen Bock zum Abschuss
freigebe."
"No jo, Herr Färschter, Sie sorn immer, ich wär´ a liederliches Tuch.
Heite wor´s owr gutt, doß ich monchmol liederlich bin; denn sunst hätt
ich drei Böcke gebrocht."
"So dann hätten Sie sich für eine Viertelstunde der Gnade Gottes
empfehlen müssen."
"Un dos wor asuu: Wie ich mit da zwee Böcka off heemzuging, stond off eemol
wieder o Book fier mr. Ich ließ meine Böcke folla und griff noch´m Gewehre.
Dos wor ju wieder gelodt, doch am Piston soß noch kee Kapsla. Ich langt´
ei die Westatosche, wuh die Kapslan immer sein und fond kees. Do hott´
ich doch heite murchas vrgassa Kapslan einzustecka, un nu kunnt ich da dichta
Bock nee schießa."
"Das war Ihr Glück, Hintner, und damit Punktum."
Es war Herbst geworden, und die Zeit, da sich der Jäger um die Beschaffung des
Winterfutters für sein Wild zu sorgen hat, war gekommen. Mein Vater hatte inzwischen
gehört, dass die Landwirte des unteren Aupatales eine gute Klee-Ernte gehabt
hatten, und sandte nun den Heger Hintner nach Jungbuch, um dort bei den Bauern
einige Zweispännerfuhren guten Kleeheues aufzukaufen. Hintner tat dies, und
als er wiederkam, meldete er, dass er mehr als hundert Zentner Kleeheu gekauft
habe. Auf die Frage meines Vaters, ob der Klee schön ist, antwortete Hintner
wörtlich: "Herr Färschter, ha is ok gor zu siehr schien, ma möchte´n
urntlich salwr fraßa."
Das war der alte Mitzgerwenzl, von dem die ältere Generation der ehemaligen
Bewohner des oberen Aupatales noch gehört haben dürfte.
Anmerkung:
Wenzel Hintner, geb. am 17.02.1821 in Gross-Aupa, Heger. Spitzname: Mitzgerwenzl
Vater: Johann Hintner aus Gross-Aupa II-319
Mutter: Juliana geb. Ignaz Mitzinger, Richter, aus Gross-Aupa II. Teil
Heirat der Eltern am 10.12.1812