Quelle: Riesengebirgsheimat 1953

Mitzgerwenzl

von Max Herkner

Heger Hintner war meinem Vater dienstlich unterstellt. Er war zweifellos eine imposante Erscheinung; denn er maß vom Scheitel bis zur Sohle gut und gern 1,95 Meter, seine breitschulterige Gestalt war ebenmäßig und zeigte trotz seiner mehr als sechzig Jahre eine straffe Haltung. Ein mächtiger, schlohweißer Vollbart, der bis an den Gürtel reichte, zierte nebst einem martialischen Schnauzbart die untere Hälfte seines Gesichtes, das überdies mit einer kühnen Adlernase und einem dunkelfarbigen, listigen, von dichten weißen Brauen überschatteten Augenpaar ausgestattet war. Angetan war Hintner jahraus, jahrein mit einer speckigen Jagdjoppe, ähnlich beschaffenen Lederhose und derben Schaftstiefeln. Über dieser Aufmachung trug er außerdem noch einen langen, dunkelgrauen Mantel eines wohl aus der Biedermeierzeit stammenden Schnittes mit einer Doppelreihe talergroßer Hirschhornknöpfe. Den Kopf bedeckte ein sehr breitrandiger Hut von unbestimmbarer Farbe, den aber eine alljährlich erneuerte grüne Schnur mit langen, gleichfarbigen Troddeln umschloss. Diese waren indessen meist nicht farbecht, so dass sie bei Regenwetter ausgingen und dem schönen weißen Vollbart ein neckisches grünes Kolorit verliehen.

Wenn Hintner, allgemein nur unter dem Namen, "Mitzgerwenze" bekannt, auf den steinigen Jagdsteigen gemessenen Schrittes durch den Bergwald schlenderte und seine Augen überall hatte, denn er sah den Wald- und Jagdfrevlern scharf auf die Finger, dann glaubte man, in ihm eine Hünengestalt aus grauer Vorzeit, wenn nicht gar Rübezahl in eigener Person zu erkennen, um so mehr, da er sich auf seinen Waldgängen stets auf einen langen, aus einer Eichenphalwurzel gearbeiteten dicken Knotenstock stützte, der nebst einer umfangreichen Waidtasche und einer uralten, verrosteten Vorderladerbüchsflinte seine ständige Ausrüstung bildete.

Alles in allem genommen war Hintner ein brauchbarer Mann, den mein Vater als Forstschutzorgan sehr schätzte. Er trank nie ein Glas über den Durst, obzwar er gern beim Bier in der Kreuzschänke oder der Mohornmühle saß, um seine Tischgenossen zu hänseln. Doch – es ist nun einmal im Leben so – es ist nie alles beisammen, und wo Licht ist, ist Schatten! Mitzgerwenzl hatte auch Schwachen, und obzwar er ein unermüdlicher Waldläufer war, hatte er eine schier unüberwindliche Abneigung vor forstlichen Betriebsarten, und das Vermessen und Numerieren der in den Holzschlägen seines Schutzbezirkes anfallenden Holzmassen erledigte er immer in bemerkenswert kurzer Zeit, um nur möglichst rasch wieder unterwegs sein zu können und in den Hochlagen des Revieres "noch´m Rechta zu sahn". Wenn dann mein Vater seine Arbeiten kontrollierte, dann gab es Unstimmigkeiten, die Hintner manches "liederliche Tuch" seitens seines Vorgesetzten eintrugen, das sich der so Gescholtene – den Zerknirschten mimend – mit dem nie gehaltenen Versprechen, es das nächste Mal besser zu machen, reuig anhörte, um dann heiteren Gemüts seiner Wege zu gehen.

Und noch eine Schwäche, die man vielleicht auch als Stärke bezeichnen kann, hielt Mitzgerwenzl im Bann. Er war ein leidenschaftlicher Pascher. Dieser Umstand bereitete meinem Vater, der sich ja in gewissem Sinne für seine Untergebenen verantwortlich fühlte, manche Sorge, und als Hintner eines Samstags beim Frührapport im Forsthaus seine Absentierung über den Sonntag mit dem Hinweis meldete, dass er wieder einmal "ei´s Bloe" muss, da warnte ihn mein Vater mit den ernsten Worten:

"Hintner, lassen Sie doch endlich das Paschen. Wie leicht können Sie einmal den Finanzern einlaufen, und Sie lassen sich, wie ich Sie kenne, bei Ihrer körperlichen Überlegenheit zu einer schweren Gesetzwidrigkeit hinreißen, dann kann ich Sie selbst mit dem besten Willen nicht decken."

Der so Gewarnte reagierte auf die Worte meines Vaters in seiner Weise. Mit großartiger Geste strich er sich seinen Schnurrbart von den Lippen, dann antwortete er: "Herr Färschter, wenn Sie wella, gahn Se mr ok en grußa Sook, ich breng Ihna a preischa Willem (den deutschen Kaiser) rüwer."

Vor so viel Selbstbewusstsein musste mein Vater die Flagge streichen. Aber einmal wäre es doch beinahe schief gegangen. Mitzgerwenzl hatte in Schmiedeberg stark eingekauft und am Rückweg über die Schwarze Koppe war der Rucksack auch für diesen Titanen zu schwer geworden. Kaum hatte Hintner auf schmalem Schwärzersteig die böhmische Grenze überschritten, als er sich nach einem zum Ausruhen geeigneten Plätzchen umsehen mußte. Nachdem er dieses zwischen Knieholzstauden und Wetterfichten, höher als der Steig, gefunden und sich geruhsam niedergelassen hatte, kam schon nach kurzer Zeit auf eben diesem Steig ein Gendarm, der vermutlich auf die Schneekoppe wollte. Hintner verhielt sich mäuschenstill, wurde aber doch gesehen und angesprochen:

"`n Morgen! Sind Sie der Herr Hintner?"

"Jo, dah bin ich."

"´s ist gut. Adieu." Mit drei Fingern der rechten Hand an die Krempe seines Federhutes greifend, ging der Hüter der heiligen Hermandad weiter. Mitzgerwenzl atmete auf, und halblaut flüsterte er in seinen Bart: "Gott sei´s gedankt, dos ist noch amol gutt ganga."

Am nächsten Morgen beim Rapport im Forsthaus konnte es sich Hintner nicht versagen, seine Begegnung mit dem Gendarm meinem Vater zu erzählen und seinen Bericht in den Satz ausklingen zu lassen: "Wann owr da Mohn mit dam Fadrhut zu mir ruff gekumma wär, bei meiner Seele, ich hätt´n drschlohn."

Mein Vater antwortete ihm: "Na, na, Hintner, das hätten Sie zwar nicht getan, aber ich warne Sie noch einmal."

Wenige Monate später war Hintner – ebenfalls an einem Montag stark verspätet bei der Morgenmeldung im Forsthaus erschienen, und nach der Ursache seiner Verspätung befragt, antwortete er: "Wissa Se, Herr Färschter, ich hott´ gestan nosse Fiße gekriecht und do wullt a Schnuppa kumma, dan mußt ich mit a Poor Stampalan Rum vrtreiwa. Do hoh ich´s holt heute murchas a bißla vrschlofa."

"Ja, Hintner, seit wann bekommen denn Sie von nassen Füßen den Schnupfen?"

"Jo, sahn Se, Herr Färschter, dos wor nee asu eefoch. Ich ging gestan zu Mittich ein Niedermarschdorff nunder - ich wullt ei die Freit un em Bekannta a Poor Kistlan preische Zigarrn hietrorn –, da komma zwee Finanzer und die wullta ei menn Rucksook sahn. Dos ging doch nee, und do mußt ich medn ei die Ape (Aupa) boda giehn. Durt hoh ich die zwee Kalle urntlich ausgeschweeft und dann hoh ich mich drvon gemacht."

Hintner war – wie von ihm nicht anders zu erwarten war - ein passionierter Jäger und sicherer Schütze, der aus seinem alten, rostigen Schießeisen seine Kugeln immer dahin sandte, wo sie hingehören. Eines sonnigen Sommernachmittags saß mein Vater in seinem Büro bei dringenden Schreibarbeiten, als das Telefon schrillte. Der Forstmeister teilte mit, dass für den nächsten Tag im Schloss zwei Rehböcke benötigt werden und diese sollten bis zum nächsten Vormittag daselbst abgeliefert werden. Mit einer lauten Verwünschung hing mein Vater den Hörer an: "Auch das noch! Diese unaufschiebbare Vielschreiberei und nun bis morgen zwei Böcke." Rasch ließ mein Vater die Pürschmöglichkeiten an seinem geistigen Auge vorüberziehen, dann entschloss er sich: "Einen übernehme ich, den anderen muss Hintner schießen." Der Fernsprecher wurde auf das Hegerhaus umgestellt und dieses angerufen. Der Heger meldete sich. Einige Minuten später wäre er schon nicht mehr zu Hause gewesen. Er bekam den Auftrag, bis zum nächsten Morgen einen Bock im Forsthaus abzuliefern. Meinem Vater, der sich auch sofort auf die Pürsch begeben hatte, gelang es, kurz nach Sonnenuntergang auf der Kolbendorfer Seite einen Bock zu erlegen, und als er sich am Heimweg befand, hörte der bei schon stark fortgeschrittener Dunkelheit vom Finkenberg herüber einen Schuss, welche Tatsache er mit dem Gedanken quittierte, dass nun auch Hintner seinen Bock bekommen hat.

Am frühen Morgen des nächsten Tages saß mein Vater wieder in eifriger Schreibarbeit an seinem vor einem der Straße zugekehrten Fenster stehenden Schreibtisch. Hie und da hob er seinen Blick zum Fenster, denn er erwartete Hintner, der eigentlich schon längst hätte da sein müssen. Endlich erschien er. Doch – was ist das? An jeder seiner mächtigen Schultern baumelte ein an den vier Läufen zusammengebundener Bock.

"Na warte, du Himmelsakermenter! Komm nur erst herein, da kannst du dir eine ausgiebige Fillipika anhören! So eine Eigenmächtigkeit!" Endlich trat Hintner grüßend ein. Er blieb aber – wohl infolge einer peinigenden Gewissensunklarheit – bescheiden an der Tür stehen, denn er wusste, dass sein Vorgesetzter, wenn verärgert, keinen guten Knaster raucht. Nach längerem Schweigen hob er zu sprechen an:

"Herr Färschter, ich breng zwee Böcke."

"Ich hab´s gesehen. Wie kommen Sie dazu, zwei Böcke zu schießen, wenn ich Ihnen nur einen freigegeben habe? Sie sind doch schließlich alt genug, um sich daran gewöhnt zu haben, Befehle genau so auszuführen, wie sie Ihnen gegeben worden sind."

"Sein S´ ok nee biese, Herr Färschter, owr dos wor asuu. Gestern Owrte, ´s wor schunn siehr dunkl, ho ich off a irschta Book geschossa. Ha blieb owr nee liecha un do mußt ich heite ei ollr Früh wieder off a Finkaberg un noch´m sucha. Ich fond `n owr glei, un wie ich `n ufbrecha tot, stond off eemol wieder a Book fier mr – dan hoh ich holt a imgeleht."

"Das ändert nichts an der Tatsache, dass Sie gegen den Befehl gehandelt haben. Sie können lange warten, ehe ich Ihnen wieder einmal einen Bock zum Abschuss freigebe."

"No jo, Herr Färschter, Sie sorn immer, ich wär´ a liederliches Tuch. Heite wor´s owr gutt, doß ich monchmol liederlich bin; denn sunst hätt ich drei Böcke gebrocht."

"So – dann hätten Sie sich für eine Viertelstunde der Gnade Gottes empfehlen müssen."

"Un dos wor asuu: Wie ich mit da zwee Böcka off heemzuging, stond off eemol wieder o Book fier mr. Ich ließ meine Böcke folla und griff noch´m Gewehre. Dos wor ju wieder gelodt, doch am Piston soß noch kee Kapsla. Ich langt´ ei die Westatosche, wuh die Kapslan immer sein und fond kees. Do hott´ ich doch heite murchas vrgassa Kapslan einzustecka, un nu kunnt ich da dichta Bock nee schießa."

"Das war Ihr Glück, Hintner, und damit Punktum."

Es war Herbst geworden, und die Zeit, da sich der Jäger um die Beschaffung des Winterfutters für sein Wild zu sorgen hat, war gekommen. Mein Vater hatte inzwischen gehört, dass die Landwirte des unteren Aupatales eine gute Klee-Ernte gehabt hatten, und sandte nun den Heger Hintner nach Jungbuch, um dort bei den Bauern einige Zweispännerfuhren guten Kleeheues aufzukaufen. Hintner tat dies, und als er wiederkam, meldete er, dass er mehr als hundert Zentner Kleeheu gekauft habe. Auf die Frage meines Vaters, ob der Klee schön ist, antwortete Hintner wörtlich: "Herr Färschter, ha is ok gor zu siehr schien, ma möchte´n urntlich salwr fraßa."

Das war der alte Mitzgerwenzl, von dem die ältere Generation der ehemaligen Bewohner des oberen Aupatales noch gehört haben dürfte.

Anmerkung:

Wenzel Hintner, geb. am 17.02.1821 in Gross-Aupa, Heger. Spitzname: Mitzgerwenzl
Vater: Johann Hintner aus Gross-Aupa II-319
Mutter: Juliana geb. Ignaz Mitzinger, Richter, aus Gross-Aupa II. Teil
Heirat der Eltern am 10.12.1812

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